HOW TO BE SEXY?

HOW TO BE SEXY?

Breite Schultern, straffe Muskeln und einen knackigen Six-Pack. Das Ziel: Aussehen wie Adonis selbst. Dafür ist Opfern von Bigorexie jedes Mittel recht – im wahrsten Sinne des Wortes

Ein Feature von Victoria Eboh, MODEJOURNALISMUS/MEDIENKOMMUNIKATION
AMD HAMBURG

5:30 Uhr. Während sich die meisten Menschen, die erst um 9 Uhr beim Job sein müssen, noch einmal gemütlich im Bett drehen, ist es für Mandid Zeit aufzustehen. Er muss kochen. Mit genauester Präzision wiegt er seine sieben Mahlzeiten für den Tag ab. Für Normalos verrückt, für Fitnessjunkies auch schon an der Grenze. Für Mandid ein Muss. Ohne kann er nicht. Mit 25 Jahren ist er groß und durchtrainiert. Und zwar wirklich gut durchtrainiert. Sein Körper ist von Muskeln übersät. Jeden Morgen verbringt er mehr und mehr Zeit damit, halbnackt vor dem Spiegel zu posen und sich selbst zu betrachten. Klingt nach einem Narzissten? Tatsächlich leidet er an einer Krankheit, von der vermutet wird, dass einer von zehn Männern, die regelmäßig Sport betreiben, sie hat: den Adonis-Komplex. Für Mandid ist sein Körper eine Abscheulichkeit, an der er immer und immer weiterarbeiten muss. Das Ziel: So sexy zu sein wie der griechische Gott, das damalige Sinnbild von Männlichkeit, und sich in seinem Körper wohlfühlen. Aber wie geht das?

Fast 11 Mio. Deutsche besitzen eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio. Für viele ist diese nur das Überbleibsel eines übermütigen Neujahrsvorsatzes. Für Menschen mit Bigorexie, wie die neurotische Störung auch genannt wird, ist die Muckibude jedoch ein zweites Zuhause. Mehrmals täglich gehen die Betroffenen trainieren. Diese Routine bestimmt ihren Alltag.

Mandid ist müde. Auch er hat seine zwei Gänge ins Fitnessstudio und fünf Mahlzeiten für heute hinter sich. „Am liebsten würde ich mich jetzt schlafen legen“, sagt er. Nicht mal diesen Satz kann er zu Ende bringen, ohne ihn durch ein langes Gähnen zu unterbrechen. Langsam steht er auf und verlässt sein Wohnzimmer, geht in die Küche, um mit der braun-grünlichen Masse plus Beilage zu kämpfen: Geminztes Hackfleisch mit Kartoffeln. Zwei Mahlzeiten kommen noch, bevor Mandid sich erlaubt, ins Bett zu gehen.

Betroffene verbringen 5,5 Stunden täglich
damit, an ihre Muskeln zu denken

Als Krankheit wurde der Adonis-Komplex das erste Mal von Bodybuildern im Kalifornien der 1980er Jahre entdeckt. Da sich das Krankheitsbild ähnlich zu dem der Magersucht verhält, nennt man sie auch „umgekehrte Anorexie”, außerdem Bigorexie, Biggerexie oder Muskeldysmorphie. Den überwiegend männlichen Erkrankten geht es nicht darum, Gewicht zu verlieren, vielmehr möchten sie um jeden Preis an Muskelmasse zunehmen. Nicht um fit und gesund zu sein, sondern um das eigene Selbstwertgefühl zu stärken und ihrem verzerrten Bild der Männlichkeit optisch näherzukommen. „Damit sie den Wunsch, besser auszusehen und sich besser zu fühlen, befriedigen können, werden Diäten gemacht, Fitnessstudiomitgliedschaften abgeschlossen und auch Steroide genommen“, weiß Scott Griffith, der schon oft mit Bigorexie-Erkrankten zu tun hatte. Der Psychologe weiter: „Natürlich ist nicht jeder, der seine Ernährung umstellt, regelmäßig trainiert und ab und an über seinen Körper nachdenkt, gleich krank oder gefährdet. Die wirklich Betroffenen verbringen im Durchschnitt 5,5 Stunden am Tag damit, nur über ihre Muskeln nachzudenken“.

Und das ist genau der Punkt. Denn nicht die Trainingssucht macht das Bigorexie-Opfer krank, sondern sein gestörtes Denkverhalten macht ihn zum Bigorexie-Opfer und somit zwangsläufig auch trainingssüchtig. Rob Wilson ist der Gründer der Body Dysmorphic Disorder Foundation (z. dt. Stiftung für körperdysmorphische Störungen) und beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit kognitiver Verhaltenstherapie. Er sagt: „Von Muskeldysmorphie spricht man, wenn jemand, der ständig trainiert, in den Spiegel sieht und davon überzeugt ist, nicht muskulös genug bzw. zu dürr zu sein. Andere Symptome sind, den eigenen Lebensstil über Freunde und Familie zu stellen, trotz Verletzungen zu trainieren sowie Panik- und Schuldgefühle zu bekommen, falls das Training ausgelassen wird.“

„Ich markiere meine Problemzonen mit einem
mentalen roten Marker”

Der häufigste Auslöser für die Bigorexie ist Mobbing aufgrund der Statur, die die Jungs zu Beginn ihrer Pubertät hatten. „Entweder wurde ihnen gesagt, sie seien zu dick oder zu dünn“, so Griffith. „Andere mögliche Ursachen sind gestörte Familienverhältnisse, ein Drang zur Perfektion und das Gefühl, nie gut genug zu sein“. Derselben Ansicht ist Wilson: „Warum einige Männer erkranken und andere nicht, ist die 6-Millionen-Dollar-Frage! Auffällig ist, dass sich die Kindheitserfahrungen der meisten, die es letztendlich trifft, ähneln.“

Auch Mandid hat perfektionistische Neigungen. Er steht vor dem Spiegel in seinem Schlafzimmer. Mal wieder halbnackt. Mal wieder am Posen. Aufmerksam betrachtet er jedes seiner Körperteile, macht sich im Kopf Notizen, woran er noch arbeiten muss. Wenn er sich selbst anschaut, sieht er einen dünnen und schwachen Mann: „Ich stelle mir einen roten Marker vor, mit dem ich all meine Problemzonen markiere. Ich weiß, dass es neurotisch ist und meiner mentalen Gesundheit schadet, aber ich habe das Gefühl, dass ich nur 90 % gebe und ich will diese anderen 10 %. Erst dann kann ich mit mir glücklich und zufrieden sein“.

Mandid weiß, dass er an Bigorexie leidet. Da diese Krankheit den meisten Menschen jedoch nicht bekannt ist, wissen viele andere Betroffene nicht, dass ihr Verhalten möglicherweise nicht normal ist. „Es ist eine weitläufige Krise unter den Jungen und Männern von heute – eine Krise, die die wenigsten bemerken“, schreibt Harrison Pope in seinem Buch „Der Adonis-Komplex. Schönheitswahn und Körperkult bei Männern“. Betroffenen empfiehlt Pope, sich einer kognitiven Verhaltenstherapie zu unterziehen, um so ihre Denk- und auch Lebensweise zu verändern. Dann wird die Frage nach der Sexyness bald keine so große Rolle mehr spielen. Hoffentlich.

DER SELBST-TEST:

Du hast eine verzerrte Selbstwahrnehmung, wenn…

1.
…Du Dir über einen Körperteil (besonders Dein Gesicht) übermäßig Sorgen machst

2.
…Du Dich ständig mit anderen vergleichst

3.
…Du Dich entweder andauernd oder gar
nicht im Spiegel ansehen kannst

4.
…Du täglich großen Aufwand betreibst, um Deine vermeintlichen Makel zu verdecken.