ES IST OKAY, NORMCORE ZU SEIN

ES IST OKAY, NORMCORE ZU SEIN
Warum es glücklich macht, sich trotz jeder Freiheit einfach mal anzupassen

Ein Feature von Julia, MODEJOURNALISMUS/MEDIENKOMMUNIKATION
AMD HAMBURG

Manchmal ist das Leben wie ein unaufgeräumtes Zimmer im Dunkeln. Jeder Schritt ein Risiko, mal tritt man ins Leere, mal auf ein Ladekabel, das mit dem Stecker nach oben nur darauf wartet, sich in den Fuß zu bohren. Gerne lassen wir uns von den Menschen sicher zum Ausgang leiten, die den Weg schon gegangen sind. Schalten wir das Licht an, stellen wir fest: Es gibt nicht nur eine Tür, sondern viele. Wir können heute alles sein, überall leben, uns jeden Tag neu erfinden. Noch nie standen die Chancen so gut, eigene Träume zu verwirklichen, noch nie konnte man sich aus so vielen individuellen Lebensstilen, gesellschaftlichen Trends und Rollenbildern eine eigene Welt schaffen. Was also ist eigentlich unser Problem? Genau das: Der Druck, alles sein zu müssen, statt einfach nur Durchschnitt.

„Hauptsache, ich habe erstmal zwei bis drei Jahre meinen Lohn pünktlich auf dem Konto und meine Ruhe vor allem, was Arbeit und Existenz angeht“, sagt Mo durch das leicht verpixelte Bild der Skype-Übertragung. Der 28-Jährige ist in seinem Leben auf mehr als nur ein Ladekabel getreten: „Ich war wie eine Marionette, um alle zufriedenzustellen. Eltern, Chefs, alle erwarten was von Dir.“ Statt aus der Masse herauszustechen, setzt er lieber auf Sicherheit durch Anpassung. Er rollt mit dem Stuhl in Richtung Wand: „Man bekommt von klein auf mitgegeben, dass man nie zufrieden sein darf, dass es immer noch besser geht.“ Nach seinem BWL-Studium teilt sich seine Woche jahrelang in zwei Szenarien – auf fünf Arbeitstage Leistungstheater folgen zwei Tage Eskapismus, in denen er die eigene Unzufriedenheit betäubt. Mal mit Koks, mal mit Amphetaminen, mal mit beidem zusammen. Unter der Woche helfen Medikamente, um sich überhaupt konzentrieren zu können. Zeit, um sich bei Bewusstsein zu überlegen, was er selbst vom Leben erwartet, ist nie. Bis der Körper kapituliert. Eine drogeninduzierte Psychose los zu werden, ist eine Lebensaufgabe.

„Immer besonders zu sein, ist fucking anstrengend“

Die im Jahr 2018 durchgeführte Studie der gemeinnützigen Organisation UK Youth zeigt, dass sich die 1000 befragten Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren mehr als sechs Stunden pro Tag gestresst fühlen. Sechs Stunden – hauptsächlich gefüllt mit Zukunftsangst und Geldsorgen. Es wundert also nicht, dass „Zukunftssicherheit“ Kriterien wie „Selbstverwirklichung“ schlägt und der „Space Master“ bei der Berufswahl der altbewährten BWL unterliegt. In einer weiteren Studie hat die Entwicklungspsychologin Prof. Dr. Andrea Kleeberg-Niepage mit ihrem Team der Uni Flensburg 200 junge Menschen nach deren Zukunftsvorstellungen befragt, vom Kleinkind bis zum Studenten. Die Antworten überraschen: Sie seien so angepasst wie bei keiner Generation zuvor. Kleeberg-Niepage hört sich einen auswendig gelernten Standardlebenslauf nach dem anderen an: „Ich mache einen guten Abschluss, studiere Jura, dann habe ich einen guten Job und kann mir Haus, Familie, Auto und Reisen leisten“, zitiert sie. Es gehe nicht mehr darum, sein Glück erst im Individuellen zu finden, sich ein Umfeld zur Selbstverwirklichung zu schaffen. Das, was schon da ist, wird zur Basis für die Absicherung der eigenen materiellen Existenz. Warum? „Immer besonders zu sein, ist fucking anstrengend“, sagt Mo.

„Alles Langweiler, Systemangepasste und Leistungsverweigerer“, kritisiert das MANAGER MAGAZIN 2017. 2012 startet die FAZ mit ihrem Titel „Generation Weichei“ die Negativwelle und bezieht sich auf alle, die ein Freizeitleben der Karriere vorziehen. „Diese Bewertung haben wir zum Ausgangspunkt gemacht, zu überlegen, ob wir sowas wie Widerstand von dieser Generation überhaupt erwarten sollen“, sagt Expertin Prof. Kleeberg-Niepage. Das gesellschaftlich positive Bild von Rebellion, das auf junge Menschen projiziert wird, führe zu einer Idealisierung des Jugendbildes. Nicht jeder will diese Erwartungen erfüllen und rebellieren – und wenn doch, dann eben nicht immer.

„Die Zeit, die man damit verbringt, einem falschen Ideal hinterherzulaufen, kann auch ich nicht zurückholen“

„Normcore“ – so heißt der Wortmix aus „Normal“ und „Hardcore“, den die US-amerikanische Trendagentur K-Hole 2013 zum ersten Mal verwendet hat und der sich nach und nach international ausbreitet. Er soll die Sehnsucht nach der Freiheit, „normal“ sein zu können, auf den Punkt bringen. Dabei geht es nicht um Normalität an sich, die ja nicht existiert, sondern darum, sich auf das Besondere im Alltäglichen zu fokussieren. „Früher wurden Menschen in Gemeinschaften hineingeboren und mussten ihre Individualität finden. Heute werden Menschen als Individuen geboren und müssen ihre Gemeinschaft finden“, so K-Hole. Die Konsequenz: Abgrenzung hilft nicht dabei, sich einer Gruppe anzuschließen, sich anzupassen hingegen schon. Und auf unbestimmte Zeit einer von vielen zu sein, ist wie Urlaub – vom Polarisieren, vom Sich Beweisen, von der Angst, zu versagen oder die falsche Entscheidung zu treffen. Wer weniger Energie investiert, sich permanent abheben zu wollen, der genießt am Ende des Tages einen ganz anderen Luxus: Zeit.

Elena ist 33, Künstlerin, lebt in Hamburg-Wilhelmsburg und hat ihre Gruppe in einem Atelier, das sie sich mit acht anderen auf der Elbinsel teilt, bereits gefunden. An der Wand hängt ein schwarzer Blechkasten, verbunden mit zwei großen schwarzen Uhren, die dem Raum mit ihren Zeigern Sekunde für Sekunde einen Rhythmus vorgeben. Immer wieder erklärt sie Besuchern ihre Zeitmaschine: „Du wirfst Geld rein, so viel Du möchtest.“ Sie schiebt die Ponyfransen unter ihre rote Mütze, während sich der Minutenzeiger mit jedem Cent in der Mitte des Kastens weiterdreht: „Dann drückst Du hier.“ Die Maschine spuckt einen Beleg aus: „Herzlichen Glückwunsch! Du hast 22 Minuten Zeit gekauft!“ 22 Minuten für 20 Cent sind okay. „Aber Zeit, die man damit verbringt, einem falschen Ideal hinterherzulaufen, kann auch ich nicht zurückholen“, sagt Elena lächelnd. Es ist anstrengend, sich als „Mittelmaß“ zu akzeptieren, mal nicht mehr zu funktionieren, auch wenn dabei fremde Erwartungen enttäuscht werden. Mo sagt: „Heute predige ich allen, lieber 500 Euro weniger zu verdienen und eine bunte Welt zu haben, als unglücklich und finanziell überversorgt zu sein.“

Natürlich ist Anpassung kein lebenslanges Erfolgsrezept. Es bedeutet auch, auf individuelle Bedürfnisse zu verzichten. Trotzdem liegt das Glück für eine bestimmte Zeit manchmal in einem selbstbewussten Nein, in der dadurch gewonnenen Zeit und in der gesparten Energie, die frei werden kann, sobald es sich zu rebellieren lohnt – dann auch ohne Ladekabel.